Leseprobe
Marie behielt von ihrem Wohnzimmerfenster aus die Straße fest im Blick. In der Ferne zeichneten sich die Vogesen in einem milchigen Graugrün gegen den strahlend blauen Himmel ab. Das spätsommerliche Wetter hielt sich. Gut für die bevorstehende Weinlese.
Dies war allerdings nicht der einzige Grund für ihren fokussierten Blick. Mit Spannung erwartete sie die neue Kommissarin. Ihr erster Gast, seit dem Umbau des Hauses, und nachdem ihr Mann bäuchlings die Treppenstufen hinuntergesegelt war. Nicht das erste Mal, aber zum letzten Mal – mit knapp drei Promille im Blut.
Marie hatte sich gegen den Willen ihrer Eltern durchgesetzt. Die beiden Wohnungen in ihrem Haus hatte sie nach eigenen Vorstellungen umbauen lassen. Sie brachten ihr ein zusätzliches Einkommen, da sie die Schulden ihres trinkfreudigen Gatten – Gott hab ihn selig – erdrückten.
Ihre Eltern zeigten keinerlei Empathie für ihren Wunsch nach Selbstbestimmung. Für ihren Vater grenzte es bereits an Verrat, dass ihr langjähriger Stammgast, Hauptkommissar Theo Conrads, Marie den ersten Feriengast vermittelte. Dabei blendete er aus, dass es in ihren alten Wohnungen über der ehemaligen Scheune zog, dass der Luftzug die Kerzen ausblies und der Geruch von Moder allgegenwärtig war.
Erst recht widersetzte er sich Maries Vorschlag, eine der beiden renovierungsbedürftigen Ferienwohnungen für die polnische Pflegerin herrichten zu lassen. Gleich vom ersten Tag an hatten sie sich gegen diese Person gesträubt und energisch betont, auf deren Hilfe nicht angewiesen zu sein. Wozu sonst hätten sie eine Tochter in die Welt gesetzt?
Marie blieb beharrlich. Die Pflegekraft zog in die unrenovierte Wohnung über der Scheune und kümmerte sich hingebungsvoll um ihre Eltern. Ein beträchtlicher Triumph.
„Pass gut auf sie auf“, erinnerte sich Marie an das Telefonat mit Theo. „Sie ist eine ausgezeichnete Kommissarin und die perfekte Besetzung für die freigewordene Stelle vom Karl. Aber wir müssen sie erst noch ein wenig aufmuntern.“
Was genau er darunter verstand, und wie das wir einzuordnen war, ließ er offen. Marie würde sich selbst ein Bild von der Kommissarin machen.